Die Kunst vor der Kunst

Die Geheimlehre der Kunst

Ja, die gibt es wirklich – die Geheimlehre der Kunst oder – wie sie unter den Hohenpriestern der Kunst genannt wird – die Kunst vor der Kunst. Da sie eifersüchtig und überaus streng gehütet wird, zählt sie zu den größten Mysterien der Welt, die nur den wenigen Auserwählten vermittelt wird. Sie stammt direkt vom Ptah*, dem ersten und dem wahren Schutzgott der Künstler (sein Name heißt übersetzt “Bildner“). Euer Atelierhausmeister, der früher in einem dunklen Tempel einer PtahKünstlersekte als Tempelhausmeister, bzw. –Diener für Raumordnung gesorgt, gekehrt und geputzt hat, dürfte einmal – vom Zufall beschenkt –  einem Einweihungsritual beiwohnen. Sodass er nun, unter dem gütigen Schutz der Öffentlichkeit, das allerhöchste Geheimnis der Kunst euch zuflüstern darf. Möge er dafür ungestraft bleiben …

Ptah, der Bildner, auch der Schöpfungsgott genannt
Doch Spaß beiseite. Neulich, im Abendkurs am Dienstag, haben wir wieder über die Kunst der Kunst, bzw. der Beobachtung gesprochen. Hier ein paar Notizen darüber.

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“Der Künstler lehrt die Kunst der Beobachtung der Dinge”
Bertolt Brecht

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Eine konzentrierte, tiefe Beobachtung ist, wie wir wissen, die Hauptbeschäftigung eines jeden Malers. Dabei ist es irrelevant, ob man die »äußere« oder »innere« Welt betrachtet; ob man Inspiration für seine Malerei in seiner Umgebung sucht, oder mit der Absicht malt, einen bildnerischen Ausdruck für psychische Zustände zu finden. Der Schlüssel und die beste Schulung der »Kunst der Beobachtung« liegen in der Aufmerksamkeit, die man – wie praktisch! – seinen eigenen Bildern schenkt!
Zum Prozess der bildnerischen Gestaltung gehören geruhsame Arbeitspausen, in denen das Geschaffene einfach nur betrachtet wird. Denn seien wir ehrlich: Wir können einen bildnerischen Ausdruck unseres eigenen Naturells; unserer Persönlichkeit und unserer Individualität nicht finden, wenn wir nicht zu herausfinden wissen, was jenseits des Geschmacks und einer dekorativen Wirkung der Flächen, Formen und Farben – allesamt Sachen, die fremdbestimmt in uns herumgeistern – in unseren Bildern zustande kommt. Paradoxerweise sind genau diese Inhalte diejenigen, die man besonders leicht übersieht. Dies ist kein Wunder, denn wir haben Übung darin: Tagtäglich stürmen auf uns Unmengen an visuellen Informationen ein; unzählige geradezu teuflisch verführerische Bilder, die, von Medienprofis hergestellt, unsere Wahrnehmung lenken und ablenken.
(Es ist kein Geheimnis, dass ein ruhiger, psychisch stabiler Mensch ein Spaßverderber, mehr noch! – ein regelrechter Widersacher unserer konsumistischen Welt ist, den man um jeden Preis verhindern soll. Denn für die Beteiligung am Zirkus des Konsums braucht man möglichst große seelische Zerstreuung, die bekanntlich einen heißen Durst nach immer mehr Inhalt, Input, Ablenkung, Beschäftigung zu Folge hat. Damit ist sicher nichts Neues gesagt. Aber man soll sich immer wieder vergegenwärtigen, was unsere Wahrnehmung »schult« und bestimmt. … Die Kunst dagegen gehört – das glauben wir zumindest immer noch – zu den wenigen »freien Orten«, wo wir zu uns finden können und wo wir die Regie über unser Tun und Machen ein wenig selbst führen dürfen.)

Bilder zusammen betrachten und besprechen – ein “muss” des Kunstunterrichts !
Nun, wie soll man beobachten? Gibt es eine spezielle Technik dafür? Ja, die gibt es. Sie lässt sich aber nicht ohne Weiteres erklären … Ähnlich wie bei einer streng gehüteten Geheimlehre, für deren Vermittlung ein rigoroser Initiationsritus vorgesehen ist, ist auch die »Lehre« von künstlerischer Beobachtung – unsere Kunst vor der Kunst – eigentlich so einfach, dass man sie aus Furcht nicht ernst genommen zu werden am liebsten geheim halten und nur für wenige Auserwählte reservieren möchte.  Ich werde hier drei klassischen Übungsgelegenheiten nennen, von denen keiner ein Geheimtipp ist, aber zu selten, geschweige denn richtig erprobt werden. Doch Achtung! – nur dijenige von euch, die sich jetzt mit voller Überzeugung auserwählt fühlen, dürfen weiter lesen! Sonst können unerwünschte Nebenwirkungen, wie Gähnen oder ein plötzliches unkontrolliertes Muskelzucken, auftreten …

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Stille, eigene, musische Stille, ein beruhigtes Pendel, das nur seiner eigenen Gravitation gehorcht, mit der reinen Linie seiner Bahn, die durch keine fremden Einflüsse getrübt wird. Diese substanzielle Stille, positiv – voll – ist an sich schon beinah schöpferisch.
Bruno Schulz
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Beobachtung eigener Bilder während der Arbeit.  Unfertige Bilder sind wahre Schätze für die Schulung unserer Wahrnehmung. Immer wieder soll man sich zurücklehnen und »unfertige« Flächen eingehend, aber in einer gemütlichen Stimmung und in einer ruhigen Umgebung, betrachten. Eine »Skizze« beinhaltet bekanntlich unzählige Möglichkeiten für die bildnerische Gestaltung – d. h. für die Entwicklung eigener Bildideen.  Das darf man nicht verschenken!  In unserem Atelier haben wir durch regelmäßige Bildbesprechungen die Kultur einer solchen Beobachtung stückweit schon etabliert. Es liegt aber an euch, liebe Auserwählte dies weiter zu vertiefen! Die Hauptanleitung dazu – oben genannte Schulz’sche Stille suchen; das unfertige Bild nicht gleich analysieren oder beurteilen, sonder einfach auf sich wirken lassen. Das braucht Zeit! Der gestalterische Nutzen dieser »Arbeit« spiegelt sich unweigerlich in einer neuen Leichtigkeit und Sicherheit im Umgang mit Farben, Formen und Flächen wieder.

Manchmal “erzwingt” sogar das Bild eine Pause! Unsere Kerstin arbeitet manchmal an einem Bild ein ganzes Semester lang.
Beobachtung von Bildern anderer Künstler. “Das mache ich doch!”, höre ich euch ausrufen. Aber auch hierbei – ob im Museum oder in unserem Atelier – gilt dasselbe einzuüben: Vorerst keine inneren Erzählungen, keine Deutungen, kein »Verstehenwollen«, sondern seinem Wahrnehmungsapparat eine Gelegenheit – eine Chance! – geben, sich neu zu justieren. Im Museum gibt es dafür nicht nur Bilder, sondern auch Klimaanlage, angenehmes Licht, Ruhe, Stühle und Bänke – Zeit und Muße muss man allerdings selber mitbringen. … Wenn man sich mit der Kunst (auch) auf diese Weise beschäftigt, könnte man unter Umständen einen ganz anderen, neuen, ganz und gar überraschenden Zugang zu den Bildern finden und dabei eine Beglückung des Lebens erleben, wie man es früher nicht für möglich gehalten hat. Doch Vorsicht – eine plötzliche Begeisterung für Kunst kann euch in einem heftigen Sturm ergreifen und manche andere Interessen gänzlich verdrängen!

Die Mauer vor meiner Gartenhütte – eine “Meditation” über das Licht und Schatten …
Beobachtung von »zufälligen« Kunstwerken (früher Naturstudium genannt). Für diese Art der Beobachtung gibt es reichlich Gelegenheiten. Betrachtet eine bestimmte, “markante” Fläche aus eurer unmittelbaren Umgebung, als ob sie gemalt wäre. Dabei der Versuchung zu widerstehen, gleich eine Erzählung hineinzuprojizieren, ist von großem Wert für die Schulung der Beobachtungskunst. Das fällt manchmal schwer, aber diese Übung hilft maßgeblich, eine Fähigkeit zu entwickeln, bildnerisch tiefer zu schauen. Lasst euch eine Deutung, ein Urteil über eine Fläche, eine Struktur oder über eine Form möglichst langsam in euerem Geist aufsteigen. Lichtverbreitung, Körnung, Textur, Schattenwerk, Farbgebung, Verlauf und Raumordnung – all das kann man hierbei wunderbar ablesen ohne es “analysieren” zu müssen; eine intensive Beobachtung reicht wundersamerweise völlig aus, um die dabei gewonnenen Eindrücke in einem späteren bildnerischen Gestaltungsprozess wirken zu lassen!

Fazit: Das Bestreben eines jeden Künstlers, seine Wahrnehmung zu erweitern, zu vertiefen und davon zu berichten, hängt stark von seiner Fähigkeit ab, die Welt nicht durch den Schleier aus vorgefertigten, schon etablierten Wahrnehmungsmustern zu beobachten. Zum Luxus unserer Zeit gehört, dass man kein »Profi-Künstler« sein muss, um ähnliche Erfahrungen zu sammeln!

PS. Euer Atelierhausmeister hat sich mit diesem Thema auch in seinem Buch “Die Kunst des unbeschwärten Entsagens” beschäftigt (mehr über das Buch findet ihr hier)
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* Manche Forscher meinen allerdings, dass nicht der ägyptische Gott Ptah, sonder der Aztekengott Chicomexochtli der tatsächliche Schutzgott der Künstler ist.

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